Ihr Lieben,

dies ist etwas Besonderes, es ist ein Briefwechsel, in dem die Sehnsucht nach Befreiung, die wir alle in uns tragen, zum Ausdruck kommt, und wie ein kleiner Funke genügt, um das Licht zu entzünden, das es braucht, um alte Schatten zu vertreiben. Es ist ein Zeugnis tiefer Menschlichkeit, wenn nur noch Tränen fließen dürfen. Das Meer der ungeweinten Tränen ist voll…

Du hast mir gestattet, dies für alle zugänglich zu machen. Danke für Deinen Mut und die Großzügigkeit, mit der Du Dich teilst.

Guten Morgen du Liebe,
gerne schreibe ich Dir, und ich mache das am besten “zwischen” Deinen Zeilen, dann ist es übersichtlich und auch leicht für mich, direkten Bezug zu nehmen.
Von Herzen
Anadi

 

Am 28.11.2021 um 13:44 schrieb K:

Lieber Anadi

Ich danke dir, dass du mich heute „angesprochen“ hast beim Heartsangha Talk.

Es fliessen viele Tränen bei mir. Aber eigentlich hauptsächlich während der Talks und weniger im Alltag, da ich hier einfach funktionieren muss.

Unsere Sangha lässt immer wieder spüren, was das Herz braucht, das bringt Erleichterung, macht aber auch schmerzlich bewusst, dass ein “Funktionieren”nicht mehr geht.

Ich glaube, dass es mich berührt, dass mich jemand „sieht“ und dies geschieht, wenn du mich persönlich ansprichst, auch wenn es per Zoom passiert.

Wir wissen, dass es ein Grundbedürfnis des Menschen ist, gesehen und gehört zu werden und es spielt keine Rolle, ob das über Zoom geschieht oder nicht. Wir wissen ausserdem, dass unsere Begegnung zur fühlbaren Verbindung wachsen kann, wenn wir dies wollen und uns darauf einlassen. Es braucht einfach nur den Schritt in die Präsenz und den üben wir jedes Mal.

Es stimmt, dass ich mit der Aufmerksamkeit oft weg drifte, wenn jemand spricht. Ich höre zwar immer noch zu, schaue aber nicht hin – in die Kamera. Ich schaue dann nach draußen, in die Bäume, in die Berge, den Vögeln zu.

Und dann spreche ich Dich an, weil ich Dich wahrnehme und alles ändert sich. Du berührst mich und alle anderen in unserem Kreis und Dich selbst in Deiner Verletzlichkeit. Die Tränen dürfen fließen und es braucht plötzlich keine Worte mehr, keine weiteren Kapitel der endlosen Geschichte, die wir eh schon alle kennen.

Ich möchte auf jeden Fall, dass dies nicht passieren würde und wenn ich mich sehr konzentriere und du mich daran erinnerst da zu bleiben, dann gelingt mir das auch besser (glaube ich).

Ich will Dich gerne darauf aufmerksam machen. Das ist die Voraussetzung für unser Zusammensein:
Du brauchst Dich nicht zu konzentrieren, im Gegenteil, entspanne Dich und lass Dich fallen im liebevollen Raum, der Dich willkommen heißt.

Es hat mit meinen traumatischen Erlebnissen zu tun, die nun sehr stark hochkommen. Ich hatte schon früh gelernt zu dissoziieren, um mich zu schützen und das Leben in meinem Elternhaus überhaupt auszuhalten. Leider tue ich das heute zum Teil immer noch. Und das macht mich auch sehr traurig.

Wir sind alle dabei, neue Wege zu gehen und dabei die alten zu verlassen. Du hast sehr gut im Blick, was da in Deiner Kindheit geschehen ist und das ist die Voraussetzung dafür, dass es sich verabschieden kann. Unangenehm aber unvermeidlich und Teil der Heilung ist, dass diese Erfahrungen noch einmal durchlebt werden dürfen. Wir verbinden uns noch einmal damit, wir assoziieren uns gewissermaßen, kehren den Prozess um. Das ist Praxis.

Es macht mir auch Angst und traurig in Bezug auf eine mögliche Liebesbeziehung. Gerade heute habe ich stark das Gefühl in mir, dass ich gar nie werde eine Liebesbeziehung auf Augenhöhe erleben können, da ich Angst habe vor zu tiefer Nähe und auch vor dem Verlassen werden, wie ich es unzählige Male erlebt habe seit ich auf der Welt bin. Ich zweifle im Moment immer wieder, ob mir „da bleiben“ in einer Partnerschaft überhaupt je möglich sein wird mit einem liebevollen und gefühlsvollen Mann. Möglich ist es mir mit Männern, die selber keine Nähe zulassen können. Aber das ist ja nicht, was ich möchte.

Ja das kann Angst machen, denn die Liebe möchte so gerne kommen. Du möchtest geliebt sein und Du möchtest lieben. Die Angst ist eine eigenartige Partnerin. Sie liebt es, die ganze Aufmerksamkeit für sich zu haben und mischt sich deswegen ein wo sie nur kann. Abschied ist angesagt. Und Du wirst fragen: Wie soll das gehen? Präsenz ist die Praxis. Dissoziiere ich gerade? Ah, ich komme zurück. Ich bin da. Im bewussten Dasein, Moment für Moment, verlieren die Schatten ihre Dynamik und Kraft. Auch das ist Praxis.

Ich hatte heute Nacht einen unglaublich schmerzhaften und angstvollen Albtraum rund um meinen Vater, wie er mich bedroht. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass ich diesen Albtraum in unserer Runde hätte erzählen können. Wir sind ja keine Therapie-Gruppe.

Sind wir nicht. Wir betreiben keine Psychotherapie. Wir begegnen uns in unserer Menschlichkeit, ohne etwas zu müssen. Wir dürfen uns so zeigen, wie wir sind und das ist Beginn der Heilung.

Auch kommen in mir Ängste auf, was noch alles passieren wird in meiner Familie rund um die Weihnachtstage. Mit meinen Eltern und meinen Schwestern. Nun hat sich letzte Woche auch noch mein Schwager von meiner Schwester getrennt und wird anfangs Dezember ausziehen.

Praxis.

Meine Eltern drohen immer wieder mit Suizid (indirekt und direkt), was ich mir zwar gewohnt bin seit ich Kind bin, und doch bringt es Unsicherheit hervor rund um die Weihnachtszeit, weil es da so offensichtlich wird, was alles auseinander gebrochen ist dieses Jahr.

Praxis.

Andererseits hatte ich mich schon seit ich Kind bin immer gewünscht, dass mein Vater mal nicht dabei ist an Weihnachten. Aber dann kommt die Angst hoch, dass er plötzlich bei meiner Schwester vor der Türe stehen könnte an Weihnachten, wenn wir alle dort sind. Ich weiss zwar, dass er an diesem Abend bei meiner anderen Schwester ist, aber die Angst ist trotzdem da.

Wer sagt denn, dass Du Weihnachten überhaupt so feiern musst? Was würdest Du denn am liebsten tun (und dann auch machen)?

Und dann denke ich, ich bin jetzt 56 Jahre alt… und diese Gedanken und Gefühle sind diejenigen eines 5-jährigen Mädchens, das hilflos ist und sich nicht wehren kann, nicht aus der Situation gehen kann. Und wenn ich das schreibe merke ich schon, dass das jetzt anders ist und dass ich kein Opfer mehr sein sollte, sondern mein Leben in der Hand habe.

Ja viele Jahre vergehen und wir fühlen uns dennoch so zeitlos, manchmal wir 5, dann wie 25, dann wie 100. Das ist die Seele die da spricht, sie zeigt mal dies, dann wieder das und alles verflüchtigt sich sofort im Moment: Praxis.

Ja, das ist es, was mich gerade umtreibt. Und ich merke wie gut es gut, das zu schreiben. Und zugleich kommt der Gedanke, dass es nicht richtig ist, dies zu schreiben, denn ich sollte selber mit meinen Themen klarkommen und sie nicht einem anderen Menschen „aufladen“. So habe ich es gelernt und versuche es immer noch zu machen. Bis mich jemand, wie du, ansprichst – und dann fliessen die Tränen, weil es mich so berührt, dass mich ein Mensch sieht und dass ich so sein kann wie ich bin, authentisch und mit all meinen Emotionen. Und dass es o.k. ist, wenn Tränen fliessen. Und auch, dass es dafür nicht immer Worte braucht und „intelligente“ Erklärungen, weshalb eine Emotion da ist und weshalb sie so ist, wie sie ist.

Ich bin selbst verantwortlich für mein Angebot, Dir zu schreiben, also belaste Dich bitte nicht selbst damit. Und lass auch meine Worte einfach durch Dich fliessen, ihre Bedeutung sind nebensächlich. Spüre die Liebe und Verbundenheit, die eher in der Stille wohnt, gleich nebenan.

Und ich weiß auch, dass ich wieder lachen kann, wahrscheinlich heute noch. Auch wenn im Moment Tränen fließen.

Ja so ist das, alles wohnt dicht zusammen und kuschelt miteinander.

Ich fühle die Wellen und es tut gut, mit ihnen zu gehen, ohne darin ins Endlose zu versinken. Und trotzdem sie in der Tiefe zu fühlen. Denn, ich weiß aus Erfahrung, wie unendlich kraftvoll sich das Glück dann anfühlt, wenn ich zuvor in der Dunkelheit war.

Und dafür bin ich dankbar.

Und ich ebenso, danke, danke.

Danke, lieber Anadi, für den Raum der Weite und des Lichts, den du uns immer wieder hältst und auch für die Möglichkeit uns daran zu erinnern, wer wir eigentlich sind und was essentiell ist im Leben und im Sterben.

Praxis

Zum Nachlesen:

PRAXIS

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